Liebe Mitbrüder,
„Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht eine Leuchte an und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; dann leuchtet sie allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen.“
Am 24. Oktober haben wir die Feiern zum 150. Todestags unseres Gründer Claret auf eine einfache und genügsame Weise mit einer Handvoll Leute in Vic abgeschlossen. Das erinnerte mich an das einfache Begräbnis unseres Gründers am 27. Oktober 1870 im Kloster Fontfroide. Doch viele von euch konnten den Vigilgottesdienst und die anderen Feiern in Vic live über das Internet verfolgen. Für uns war das Jubiläumsjahr eine Gelegenheit, tiefer in den Geist unseres Gründers hineinzuwachsen und uns in diesem Geist zu erneuern. Das Jubiläum ist ein von der Vorsehung geschenktes Vorspiel zum kommenden Generalkapitel.
Ich war mit dem Generalvikar am Grab unseres Gründers in Vic mit allen von euch in unserem Herzen. Ich trug das Gespräch, dass wir mit unserem Gründer im Vigilgottesdienst führten, in den nächsten Tagen weiter. Ich möchte euch etwas von meinen inneren Regungen mitteilen, wie ich das Leben unseres Gründers betrachtete. Ich brachte auch einige Bitten vor, dass die Kongregation in unserer Zeit fruchtbar sein möge.
Die beiden „großen Gnaden“ [1] die der Gründer in den härtesten Zeiten seines Lebens empfing, sind auch für uns kostbar. Die erste war die eucharistische Gegenwart, die er den ganzen Tag über erfuhr. Wir müssen die Dualität von Gottes Zeit und unserer Zeit, von weltlichem und göttlichen Leben, von Leben in der Kapelle und Leben außerhalb überwinden und nur eine Zeit und eine sakramentale Wirklichkeit der unsichtbaren Gabe haben, die unser sichtbares Leben und unsere Beziehungen leitet. Ohne diese sakramentale Dimension wären wir ein lebloser Körper, eine Leiche. Lasst den Herrn uns überall, wo wir sind, die Gnade seiner lebendigen Gegenwart gewähren.
Die zweite große Gnade unseres Gründers war die Gabe der Vergebung, die er denen erwies, die ihm feindlich gesinnt waren. Clarets Einstehen für die Werte des Evangeliums bewirkte, dass ihn manche Leute hassten und alles mögliche taten, seinen Namen zu beschmutzen und ihn sogar zu töten. Die Gabe der Vergebung war eine große Gnade in Weiterführung der sakramentalen Gnade der Gegenwart Jesu in seinem Herzen. Die Freude eines Herzens, das Vergebung empfangen hat und vergibt, bringt Leben hervor. Wenn ein Missionar mit einem verwundeten Herzen lebt und Unversöhnlichkeit und Hass hätschelt, wird sein Herz den Tricks des Teufels überlassen. Unsere Vorbereitung auf das Generalkapitel sollte ein Weg der Versöhnung und Vergebung untereinander und gegenüber den Menschen, denen wir dienen, sein. Je freier wir in unserem Herzen sind, umso freier werden wir Gott für das Wirken der Gnade in uns verfügbar sein.
Am Grab unseres Gründers brachte ich fünf Bitten auf die Fürsprache unseres Gründers vor. Ich möchte euch die erste mitteilen, die sehr relevant ist für unseren weiteren Weg und die Vorbereitung auf das Kapitel. Es ist die Bitte um die Gnade des Zeugnisses der Einheit. Das ist die Gabe, die wir heute am meisten brauchen, um dem Ruf des Papstes in der Enzyklika Fratelli Tutti zu folgen.
Was will ich mit „Zeugnis der Einheit“ sagen? Gemeinschaft, „kononia“ ist eine Gabe wie ein Diamant mit vielen strahlenden Ecken, der aber ein einziges kostbares Stück bleibt. Das Zeugnis der Einheit ist die Summe aller unserer Beziehungen, die auf der Liebe Gottes zu jedem von uns und zur ganzen Schöpfung gründet.
Der Kern der Einheit ist die Liebe Gottes, die alle unsere Beziehungen verbindet. Ein Missionar, dessen Herz nicht in Gott verwurzelt ist, hinkt in allen Beziehungen, selbst wenn er verspricht, für Gott zu leben und ihn mit seinem ganzen Herzen, all seinen Gedanken und seinem ganzen Willen zu lieben. Ich glaube, unsere innige Verbindung mit Gott geht auch durch Phasen, die eine Verschiebung von „ich tue etwas für Gott“ zu der Entdeckung, dass „Gott sein Werk durch mich vollbringt“ beinhaltet. In allen unseren Beziehungen hält wahre Liebe in Zeiten der Prüfung aus.
Das Gemeinschaftsleben ist die nächste Ebene einer echten Einheit. Es kostet etwas, mit Menschen zu leben, die verschiedene Charakterzüge, Einstellungen, Temperamente und ideologische Tendenzen haben. Wie ein Orchester ist es der Mühe wert, nach brüderlicher Einheit und Mission in Gemeinschaft zu streben. In der Tat ist die Einheit in der Gemeinschaft eine Symphonie der Liebe des Evangeliums, die von den Herzen der Mitbrüder gespielt wird und die wir als Missionare meistern müssen. Es ist so traurig, wenn wir große Missionare sehen, die ihre Gaben nicht in ihren Gemeinschaften orchestrieren können, oder Gemeinschaften, die sich nicht an ihren Gaben freuen können. Wenn jeder von uns das Gelände seiner Autorität und seines Dienstes wie ein stolzer Löwe bewacht, ist eine brüderliche Einheit in einer Gemeinschaft nicht möglich. Ich erinnere mich an eine Anekdote. Als ein Bewunderer die bewundernswerte Natur eine begabten Claretiners rühmte, der bei den Leuten beliebt war, fragte ihn ein einfacher Mitbruder in seiner Gemeinschaft: „Has du mit ihm in Gemeinschaft gelebt?“
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Wenn du schnell gehen willst, geh allein. Wenn du weit gehen willst, geh miteinander.“ Ein Einzelgänger bringt als Missionar eine kurze Zeit lang eine gute Leistung, aber er ist ruhelos, wenn er langsamer gehen muss, um seine Mitbrüder mitkommen zu lassen. Das ist eine wirkliche Versuchung für viele von uns. Wir brauchen das Modell eines Orchesters, um der Welt gemeinsam etwas Schönes darzubieten. Es gibt blutende Gemeinschaften, die verletzt sind durch den Beschuss der eigenen Leute, weil sie unfähig sind, zusammenzusitzen, miteinader zu reden und ihr missionarisches Wirken gemeinsam das missionarische Wirken ins Auge zu fassen, indem sie ihre Gaben und Talente zusammenbringen. Es macht traurig, wenn man schöne Missionen sieht, die in solchen blutenden Gemeischaften verletzt und behindert sind. Sie tun sich nicht nur selbst weh, sondern auch Gott und den Menschen. Der Kult der individuellen Freiheit und die Privatheit der modernen Kultur macht den Zusammenhalt in einer Gemeinschaft zu einer Herausforderung. Die brüderliche Einheit in der Gemeinschaft ist eine Aufgabe in sich. Das ist die Gnade, um die ich den Herrn auf die Fürsprache unseres Gründers gebeten habe. Es ist leicht, Spaltung in die Gemeinschaften zu säen im Namen von Ideologien, Region, Stamm, Kultur, Kast und Tradition, aber schwierig, zerrissene Beziehungen zu flicken. Wir müssen uns trainieren, mehr Anhaltspunkte in unserem Herzen zu haben, um die Unterschiedlichkeit der Perspektiven und Interssen in die Einheit unsere claretinischen Lebens und unserer Sendung zu integrieren.
Die dritte Ebene der Einheit ist die Einheit zwischen verschiedenen Charismen und Lebensformen in der Kirche und in der Gesellschaft. Spaltendes Denken, das die Welt aufteilt in „wir” und sie zwischen Laien und Klerikern, Diözesanen und Ordensleuten, traditionellen und liberalen Katholiken und andere erfundene Unterschiede, macht uns zu Schachfiguren des Bösen, der umhergeht wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen kann. Wir werden nicht Futter für den Plan des Teufels werden, die menschliche Brüderlichkeit zu zerstören. Unser Herz sollte imstande sein, jeden Menschen ohne Rücksicht auf seine Religion, Kultur und Rasse und die ganze Schöpfung mit einem Sinn der Brüderlichkeit zu umarmen.
Auch wenn die Corona-Pandemie ein Anlass zur Besorgnis ist, sehe ich Menschen, die sich an ihre Gegenwart in der Gesellschaft als Mitglied der Virenfamilie gewöhnt haben. Das Bewusstsein ihrer Gegenwart hilft uns, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Weit größere Sorgen bereiten mit die Viren der Gewalt, Spaltung und Zersplitterung in der Gesellschaft, die in der letzten Zeit konkrete Ausdrucksformen gefunden hat. Ich denke an die jüngsten sinnlosen Massaker in Frankreich und Österreiche. Das Evangelium von der Liebe und der universalen Brüderlichkeit der Menschen ist das Heilmittel gegen Gewalt und Spaltung. Üben wir bewusst das Zeugnis der Einheit, indem wir unser Herz für die heilende Liebe des auferstandenen Herrn öffnen, wenn wir als Missionare mit Geist weitergehen. Gott segne euch alle.
[1] Autobiographie, 694. Am 26. August 1861 um sieben Uhr.