Die heutige Bibelwissenschaft unterscheidet drei verschiedene Personen hinter dem Titel des heutigen Festes. Einer wäre Johannes, der Bruder des Jakobus und Sohn des Zebedäus. Der zweite der Lieblingsjünger, dessen Namen wir nicht kennen. Und der dritte der abschließende Bearbeiter des vierten Evangeliums, der sicher ein hervorragendes Mitglied der Gemeinde des Lieblingsjüngers war, aber von diesem verschieden ist. Das Altertum verband die drei in ein und derselben Person. Da für uns das Evangelium, das sich in der Gemeinde des Lieblingsjüngers herausbildete, das wichtigste ist, werden wir uns auf diese Person beschränken, der zwar das Evangelium vielleicht nicht selbst abgefasst hat, aber der Garant für die darin vermittelte christliche Reflexion ist.
Bis vor nicht allzu langer Zeit setzte man den Lieblingsjünger mit Johannes, dem Sohn des Zebedäus, gleich. Auch heute noch werden das vierte Evangelium, die drei Briefe und die Geheime Offenbarung üblicherweise als das Corpus Johanneum bezeichnet. Doch das Ergebnis von zwei Jahrhunderten exegetischer Forschung stützt die allgemein verbreitete Überzeugung, dass der Lieblingsjünger nicht zum Zwölferkreis gehörte, sondern ein Jünger Jesu anderer Herkunft war.
So erklärt es sich, dass der Lieblingsjünger während des Wirkens Jesu nur in Judäa vorkommt, aber nie in Galiläa. Außerdem spielt der Zwölferkreis im vierten Evangelium eine eher zweitrangige Rolle. Andererseits wäre der Gegensatz, der zwischen diesem Jünger und Petrus vor allem in den Erzählungen vom Leiden und von der Auferstehung Jesu besteht, unvorstellbar, wenn der Lieblingsjünger einer von den Zwölf gewesen wäre. Diese und andere Indizien wie das von der Anwesenheit des Lieblingsjüngers beim Letzten Abendmahl laden ein, sie Sicht auf die Personen und Gruppen, die in Beziehung zu Jesus standen, auszuweiten. Zweifellos handelt es sich um etwas Komplexeres als das, was in den synoptischen Evangelien festgehalten ist.
Manchmal ist man so weit gegangen, dass man dachte, der Lieblingsjünger sei keine historische, sondern eine ideale Person. Doch die Bezugnahme auf seinen Tod in Joh 21,23 gestattet es nicht, eine solche Meinung aufrecht zu erhalten. Es handelt sich sicher um eine Person aus Fleisch und Blut wie Petrus.
Doch, und das muss man zugeben, idealisierte ihn seine Gemeinde, indem sie ihn als modellhaften Jünger darstellte: der kontemplativ an die Brust Jesu gelehnt ist wie Jesus an die Brust des Vaters, der Jesus an den Ort des Prozesses folgte und ihn nicht verleugnete, der nicht flieht, wenn das Leiden kommt, sondern selbst auf dem Kalvarienberg noch beim Herrn bleibt, der schneller zum Glauben an den Auferstandenen kommt. Möglicherweise hat nicht er sich die Selbstbezeichnung Lieblingsjüngerangemaßt, sondern seine Gemeinde hat sie ihm beigelegt, weil sie ihn so sehr verehrte.
Wenn man aus der Geschichte ausscheidet, was möglicherweise einer solchen Idealisierung entspricht, müssen wir vom Lieblingsjünger festhalten, dass er aus Judäa stammte, vielleicht aus Jerusalem, dessen Topographie er mit großer Genauigkeit kannte; dass er einige Zeit in der Gemeinde des Täufers war; dass er Jesus während seiner Aufenthalte in Judäa nachfolgte, und ganz besonders in der Zeit des Leidens, und dass er nach Ostern zum unbestreitbaren und unübertrefflichen Anführer einer der entstehenden judenchristlichen Gruppen wurde.
Seine Gemeinde musste Palästina verlassen, weil es, als sie sehr bald begann, Jesus öffentlich als Gott zu bekennen, zu einer harten Konfrontation mit der Synagoge kam. Vielleicht wurden einige ihrer Mitglieder gesteinigt, wie es eine Stelle im Johannesevangelium nahelegt: „Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott.“
Wir müssen festhalten, dass die Übergabe Marias an den Lieblingsjünger durch Jesu vom Kreuz herab zu verschiedenen Spekulationen über die Zukunft beider Anlass gegeben hat. Am meisten hat sich die Meinung durchgesetzt, sie hätten bis zur Entschlafung Marias zusammen in Ephesus gelebt. Doch auch in Jerusalem wird ein Ort der Entschlafung verehrt.
Man kann nicht genau angeben, wann und wo der Lieblingsjünger starb. Der Johannes, der in Patmos in der Verbannung lebt, ist nicht derselbe, sondern ein Prophet am Rand seiner Schule. Wichtig ist, dass der Lieblingsjünger eine überaus tiefgründige Reflexion über Christus und sein Werk anstellte. Die Gemeinden, die her hinterließ, übernahmen es dann, diese Reflexion weiter zu vertiefen und schriftlich festzuhalten. Diese Gemeinden waren sehr eigenartig, deutlich unterschieden von den Gemeinden paulinischen oder petrinischen Ursprungs, auch wenn sie vielleicht gegen Ende des ersten Jahrhunderts mit diesen verschmolzen und den Grund für die Großkirche legten. Die Bücher, die wir als johanneischbezeichnen, liefern uns Angaben, die für die Geschichte des Urchristentums, das aus unterschiedlichen und einander ergänzenden Gruppen bestand, von großem Interesse sind.
Erwägungen Clarets
Pater Stifter setzte in Kontinuität zu den damaligen Aussagen der Bibelwissenschaft die drei Personen in eins. Er bewunderte den apostolischen Schwung der Donnersöhne, wie Jesus die Söhne des Zebedäus bezeichnete, ihre Treue und die Tiefgründigkeit der Johannes zugeschriebenen Schriften.
In seiner Sammlung von Festpredigten nimmt P. Claret die folgenden Aussagen über Johannes auf:
„Er ist ein Apostel, ein Mann, der voller Liebe zur Religion und hingerissen von dieser Liebe mit seinem Eifer geradezu alle Arten von Mühsalen sucht und seine Mühe allen Völkern der Erde zuwendet. Eine heilige Kühnheit leitete ihn bei seinen Unternehmungen, und die ersten Ergebnisse, die er erreicht, dienen ihm als Stachel, neue Siege zu erreichen. In diesem Portrait eines Apostels, könnt ihr da nicht den heiligen Johannes selbst erkennen und mit ihm das Bild des Apostolats, das ihr selber ausüben sollt? Doch welche so herausragenden Gnaden machen ihn für dieses Amt bereit? Wenn Jesus Christus Wunder tut, wird Johannes erwählt, um von ihnen Zeuge zu sein. Er ist einer der Jünger, die der Erlöser auf den Berg Tabor steigen lässt, wo er seine Herrlichkeit offenbart. Er ist einer von denen, die nach Jerusalem ziehen, wo sich seine Liebe zeigt, und er ist einer, die sich am See von Tiberias befinden, wo seine Macht erstrahlt. Ihm erscheint Christus, nachdem er über den Tod triumphiert hat; und wie ihr der Herr die Natur gegeben hat, befiehlt er ihm, Zeugnis für die Wahrheit abzulegen.
Johannes beeilt sich, dieses Zeugnis abzulegen, und es ist ein sicheres Zeugnis, weil es wahrhaftig ist: Verum est testimonium ejus. Als Mensch, der die wunderbaren Begebenheiten gesehen hat, die er verkündet, spricht er nicht von irgendetwas, das er nicht gesehen oder nur gehört hat: quod vidimus et audivimus. Und in welcher Gemarkung lässt dieser Mann, der durch sein Wort so machtvoll ist, das Donnern seiner Stimme zuerst erschallen? In Jerusalem, wo noch das Blut des Stephanus dampft und wo das Feuer der Verfolgung geschürt wird angesichts der Siege, die das Evangelium errungen hat.“
Und im gleichen Werk fährt unser Gründer an anderer Stelle fort:
„Punkte für des Fest des heiligen Johannes des Evangelisten:
– Die Treue ist die dem Apostolat eigene Tugend: Die Treue von Johannes kommt im Himmel der der übrigen Apostel gleich, aber sie ist höher aufgrund ihrer Beständigkeit. Er predigte wie die übrigen das Evangelium und durchzog dazu weite Gebiete, Asien, Phrygien und das Land der Parther: Dort gründete er Kirchen, setzte sich dem Martyrium aus und fuhr Verdienste ein, indem er dem Namen Boanerges (Donnersöhne) gehorchte, den man ihm gegeben hatte. Die übrigen Apostel verließen Christus in seinem Leiden; Johannes folgte ihm bis auf den Kalvarienberg und stand fest am Fuße des Kreuzes, ohne das Wüten der Juden zu fürchten. Und welche Belohnung erhielt er? Dass ihm Jesus Christus seine Mutter schenkte […].
– Der erleuchtetste von den Apostel und derjenige, der die höchsten Gedanken über Jesus Christus von sich gab. Erleuchtungen, die ihm der Herr zuteil werden ließ, als er sich an seine Brust lehnte; hier wird man aufzählen: 1. das Evangelium, das er schrieb, und in erster Linie dessen Anfang; 2. die Geheime Offenbarung, in der er in großartigen Bildern die Größe Jesu Christi darlegt; 3. die Briefe, wo uns Johannes aufweist, wie unsere Andacht, unserer Vertrauen und unsere Verhalten zu Jesus Christus sein soll. Doch ach! Wie viele sind es, die, statt Christus zu ehren, ihn entehren und nach den Worten des Apostels zum Antichristen werden!“